Joe und „das Vögelchen"

Etwa eine Woche vor Weihnachten kamen Joe und ich wie üblich am späten Vormittag von unserem Spaziergang zurück. Es hatte zwar die ganze Strecke eklig geregnet und es war bitterkalt, aber wir hatten tapfer unsere Runde wie jeden Tag abgearbeitet.

Deshalb ging ich davon aus, daß für meinen Hund die Aussicht auf eine Runde Schlaf auf seinem Kissen vor der Heizung ungefähr genauso verlockend sein mußte, wie für mich der Gedanke an eine große, heiße Tasse Tee in der gemütlich warmen Küche. Um so erstaunter war ich, als Joe keineswegs wie sonst immer schnurstracks zur Haustür lief und dort auf mich wartete, sondern daß er vielmehr nur kurz dort stehen blieb, um dann noch einmal in den Regen zu laufen und dort herumzuschnuffeln. Auf mein Rufen reagierte er zunächst gar nicht, dann kam er kurz zu mir, schaute mich an und bellte leise und dumpf, lief aber sofort wieder zu der Stelle an der er vorher geschnuffelt hatte. Also mußte ich wohl auch noch einmal in den Regen laufen, um nachzusehen, was dort neben unserer Gartenbank so interessantes zu finden war.

Auf den ersten Blick sah es so aus, als ob Joe an irgendetwas Eßbarem schnuffelte und leckte. Es mußte aber etwas ganz besonderes sein, denn auf mein Rufen und Schimpfen wollte mein sonst in solchen Dingen sehr folgsamer Joe absolut nicht reagieren. Erst als ich mich hinkniete und ihn sanft zur Seite schob, erkannte ich, was er da gefunden hatte: da lag ein völlig durchnäßter, schwer atmender kleiner Vogel. Mein erster Gedanke war: wenn der kleine Piepmatz nicht die Flucht ergreift, während ein Hund ihn ableckt, dann ist er vielleicht zu verletzt zum Fliegen.

Also nahm ich den Kleinen unter Joe’s aufmerksamer Beobachtung vorsichtig auf, um zu untersuchen, ob eventuell einer seiner Flügel gebrochen war. Das Vögelchen ließ die genaue Untersuchung aller seiner Extremitäten ohne jegliche Protest über sich ergehen, ich konnte aber nichts außergewöhnliches an ihm feststellen. Als ich ihn wieder auf den Boden setzte, fing Joe sofort wieder damit an, ihn fürsorglich abzulecken. Der Kleine war offensichtlich total erschöpft, er lag auf seinem Bauch und stützte den Kopf auf seinen extrem großen Schnabel. Nach kurzem Überlegen schob ich Joe wieder auf die Seite und setzte den Vogel dann an eine regengeschützte Stelle unter die Gartenbank. Dann „überredete" ich meinen Hund, mit mir ins Haus zu gehen, um unsere Tierärztin anzurufen. Da Joe offensichtlich verstand, daß dem Kleinen geholfen werden mußte, und daß er das nicht allein schaffte, ging er endlich mit.

Auf meine zaghafte Anfrage bei unserer Frau Doktor, ob einem kleinen, völlig durchweichten und erschöpften Vogel, den unser Joe gerade im Regen gefunden hätte, überhaupt irgendwie geholfen werden könne, reagierte sie sofort sehr verständnisvoll: obwohl gerade keine Sprechstunde bei ihr war, bot sie mir gleich an, den Piepmatz -den ich für einen Buchfink hielt- bei ihr vorbeizubringen um ihn erst einmal unter eine Rotlichtlampe zu setzten. Er sei ja schließlich auch ein Tier, für das wir Menschen Verantwortung tragen, besonders wenn es verletzt ist.

Also erklärte ich Joe, daß das einzige, was er noch für den kleinen Vogel tun könne, sei brav zu Hause auf mich zu warten.

Dann setzte ich „seinen" Vogel in einen geräumigen Karton und brachte ihn in die Tierarztpraxis im Nachbarort. Dort war man sehr erstaunt über den „komischen Vogel", den ich da brachte. „Nein, ein Buchfink ist das auf keinen Fall," hieß es, „dafür ist er viel zu groß!";"Und dann dieser riesige Schnabel! Vielleicht ist es eher eine seltene rot-braune Kleinpapageienart!" Während die Tierärztin, zwei ihrer Bekannten und ich diskutierten, wurde es dem kleinen Vogel dann doch zu bedrohlich in seinem Karton: mit lautem "Tschilp tschilp!" flog er auf und in Richtung Fenster. Dort stürzte er ab und blieb wieder erschöpft liegen. Jetzt wußten wir wenigstens eines: er konnte noch fliegen, wenn auch nur unter allergrößter Anstrengung. Nach seinem „Fluchtversuch" ließ er sich dann sofort widerstandslos mit der Hand aufnehmen und in einen geräumigen Papageienkäfig setzen. Zwar war er viel zu schwach, um sich auf einer der Stangen halten zu können, aber er machte es sich am Boden gemütlich und ruhte seinen Kopf wieder auf seinem großen Schnabel aus. Offensichtlich genoß er die Wärme unter der Rotlichtlampe.

Unsere Tierärztin versprach mir, den Kleinen erst einmal aufzupäppeln und dann einen Vogel-Experten aus dem örtlichen Tierheim zu fragen, um welche Vogelart es sich überhaupt handelt.

Also fuhr ich beruhigt wieder nach Hause.

Aber meine Neugier war jetzt zu groß: ich zu Hause fing ich gleich an, in meinem alten „Brehm’s Tierleben" nachzuschlagen, in der Hoffnung, Joe’s Vogel zu entdecken. Und tatsächlich: Unter der Überschrift „Heimische Finken" war eine Abbildung von ihm: Joe hatte einen bei uns relativ seltenen „Kirschkernbeißer" gefunden. Bis zu diesem Tag wußte ich gar nicht, welche seltsamen Vögel bei uns heimisch sind! Der Kirschkernbeißer ist ein etwa starengroßer, rotbrauner Vogel mit schwarzen und weißen Absetzungen am Schwanz und an den Flügeln. Er hat einen gewaltigen, ca. 3 cm langen und am Ansatz bestimmt 2 cm breiten Schnabel, mit dem der kleine Kerl mühelos Kirschkerne knacken kann.

Als ich am nächsten Tag noch einmal in unserer Tierarztpraxis anrief, sagte man mir, der kleine Vogel sitze schon wieder normal in seinem Käfig, er stütze den Kopf nicht mehr mit dem Schnabel ab und er habe auch schon etwas Wasser aufgenommen.

Joe hatte also einem wirklich „seltenen Vogel" das Leben gerettet!

              © A.Kreusch '99

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